Soziale Bewegungen und Gerichtsverfahren
Kann man durch gerichtliche Verfahren sozialen Fortschritt bewirken, also dafür sorgen, dass es einigen Leuten besser geht oder dass Missstände beseitigt werden? Es gibt dafür eine Reihe von Beispielen, in Indien, in Südafrika, in den USA, aber auch in Deutschland. Das Büchlein von Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation, Begriff und Praxis, Baden-Baden 2019 (Nomos-Verlag) gibt eine erste Einführung. Mein dort abgedruckter Beitrag findet sich hier -> Strategische Prozessführung – Erfolge, Misserfolge und mögliche Determinanten
Das Thema wird uns weiter beschäftigen. Über neue Entwicklungen wird von Zeit zu Zeit berichtet werden.
Ende März 1970 erschien im „STERN“ ein Bericht mit dem Titel „Sterben ist Ländersache“ (Der STERN, Heft 14/1970 vom 29.3.1970, S. 60). Er war sorgfältig recherchiert: Menschen, deren Nieren versagten, konnten mit Hilfe einer „künstlichen Niere“ gerettet werden. Diese war ein Apparat, der anstelle des natürlichen Organs das Blut des Patienten reinigte. Der einzelne Kranke musste zwei bis drei Mal pro Woche etwa sechs bis acht Stunden an die Maschine angeschlossen werden.
Die „künstliche Niere“ gab es nur in Krankenhäusern. In der ganzen Bundesrepublik existierten – so der Bericht des „STERN“ - insgesamt 290 solcher Geräte, mit denen 583 Patienten versorgt wurden. Gleichzeitig starben jedes Jahr etwa 1500 Menschen an chronischem Nierenversagen; für sie war kein Platz frei. Die behandelnden Ärzte hatten (nirgends veröffentlichte) Kriterien entwickelt, nach denen entschieden wurde, wer einen frei gewordenen Platz bekam: Wer über 60 war oder an einer zweiten Krankheit litt, hatte beispielsweise von vorne herein keine Chance. Theoretisch bestand die Möglichkeit, auf eigene Kosten eine künstliche Niere zu erwerben und Angehörige oder andere hilfsbereite Menschen mit deren Bedienung vertraut zu machen. Der Kaufpreis lag allerdings bei ca. 25.000,- DM; dazu kamen laufende Kosten von etwa 3.500,- DM im Monat. Der Stern-Reporter hatte sich erkundigt, weshalb man in Krankenhäusern nicht mehr Geräte angeschafft hatte. Das Bundesgesundheitsministerium hatte erklärt, der Bund sei für die Krankenhausfinanzierung nicht zuständig. In den Ländern hatte man gesagt, es würden die nötigen Haushaltsmittel fehlen.
Der Zufall wollte es, dass eine Freundin meiner Frau Sekretärin bei ei- nem Chefarzt in Berlin war. Er war für die Versorgung der Nierenkranken zuständig. Zu entscheiden, wen er retten und wen er seinem Schicksal überlassen wollte, war für ihn eine schwere Belastung. Nun gab es einen Patienten, Vorarbeiter auf dem Bau, der ohne künstliche Niere noch eine Lebenserwartung von sechs bis acht Wochen hatte. Nirgendwo in Berlin war jedoch ein Behandlungsplatz frei. Seine Arbeitskollegen hatten Geld gesammelt; es waren beachtliche 10.000,- DM, aber eben nicht die notwendigen 25.000,- DM zusammen gekommen. Wie wäre es, die Krankenkasse vor dem Sozialgericht auf Anschaffung eines Geräts zu verklagen? In der Not greift man nach jedem Strohhalm. Ich war zwar kein Sozialrechtler, aber es gab ja Kommentare, aus denen man vermutlich Honig saugen konnte. Also erklärte ich mich bereit, auf die Schnelle eine Klage aufzusetzen, in der viel über das Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG stand; die Kommentare waren der Problematik fast vollständig ausgewichen.
Meine Frau und ich fuhren zum Sozialgericht in der Berliner Invaliden- straße. Wir hätten da eine sehr eilige Klage, sagten wir an der Pforte. Ich solle sie mal hergeben, war die Antwort. Wie lange es denn brauche, bis man einen Termin habe. „So ungefähr acht Monate, wenn es gut geht“ war die Antwort. Wir gaben die Klageschrift nicht her; welche Kammer denn für die Krankenversicherung zuständig und in welchem Raum deren Geschäftsstelle sei. Es gehe um Leben und Tod. Na gut, meinte der Pförtner, da sollten wir mal in Zimmer 240 gehen. Dort empfing uns eine Geschäftsstellenbeamtin. Kurze Darstellung des Falles von unserer Seite. Wann man denn mit einer Entscheidung rechnen könne. „Frühestens in einem Jahr“, war die Antwort, meistens dauere es länger. Entsprechendes hatte ich auch von anderer Seite gehört. „Dann ist aber unser Mandant längst tot“, war die naheliegende Antwort. Das sei schlimm, sagte sie, aber sie habe keinen Einfluss auf die Termine des Gerichts. Die Prozessordnung sehe in solchen Fällen auch keinen einstweiligen Rechtsschutz vor (was korrekt war). Wir verwiesen auf den Bericht im „STERN“. Dieser sei weiter an der Sache interessiert und würde über jeden unserer Schritte berichten. Ich hatte in der Tat mit dem Verfasser der „Reportage“ Kontakt aufgenommen, und er hatte nachhaltiges Interesse signalisiert. Der Hinweis auf den „STERN“ machte Eindruck. Der Richter sei nicht da, aber sie wolle ihm die Klage gleich auf den Schreibtisch legen und groß „Eilig“ drauf schreiben.
Wie es denn mit einem Aktenzeichen sei, war meine Frage. Denn ohne Aktenzeichen kann man später nicht nachfragen und riskiert, dass die Klage irgendwo im Bermuda-Dreieck verschwunden ist. Das war ein schwieriges Problem. Die Aktenzeichen, die in der Reihenfolge des Eingangs vergeben wurden, waren in ein Buch einzutragen, das sich verschlossen in einem Schrank befand. Der Beamte, der den Schlüssel hatte, würde aber erst am Nachmittag anwesend sein. Wir notierten uns den Namen unserer Gesprächspartnerin und kündigten an, uns am Nachmittag telefonisch zu melden. Das taten wir dann auch; mittlerweile war tatsächlich ein Aktenzeichen entstanden.
Der Richter war sich ersichtlich der Tragweite der Problematik bewusst. Schon für die folgende Woche setzte er einen Termin zur mündlichen Verhandlung an. Die Krankenkasse plädierte auf Klageabweisung; man sei dabei, das Problem durch gemeinsame Aktion aller gesetzlichen Krankenkassen anzugehen. Der Richter ließ sich dadurch nicht beeindrucken und gab der Klage statt. Das Protokoll der Verhandlung ist noch vorhanden. Das Urteil wurde rechtskräftig, da die sog. Sprungrevision zum Bundessozialgericht wegen eines Formfehlers als unzulässig zurückgewiesen wurde. Die Entscheidung des Sozialgerichts Berlin. In gekürzter Form veröffentlicht in JZ 1971, 422. Auch die FAZ nahm sich des Problems an. Die Kammer stützte sich nicht so sehr auf das Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG. Das Gesetzesrecht – im konkreten Fall der § 182 RVO – müsse so ausgelegt werden, wie dies der derzeitige Stand der Medizin verlange. Die Dialyse („Blutwäsche“) sei der Sache nach nichts anderes als ein Surrogat der ärztlichen Tätigkeit. Gäbe es keine künstlichen Nieren, so müsste theoretisch der Arzt im Operationssaal einen Blutaustausch vornehmen. Dies rechtfertige es, sie der Krankenpflege zuzurechnen, die eben nicht nur ärztliche Behandlung im klassischen Sinne und Versorgung mit Arznei und kleine- ren Heilmitteln umfasse, sondern über die Aufzählung des § 182 RVO hinaus auch neue, durch die Fortschritte der Medizin ermöglichte Behandlungsmethoden. Nicht nur der Arzt, auch der Jurist dürfe nicht auf dem Erkenntnisstand der RVO aus dem Jahre 1911 stehen bleiben. Der Versicherte habe daher einen Anspruch auf Bereitstellung und Unterhaltung eines Dialysegeräts.
Nicht allein der Kläger erhielt sein Gerät; die Krankenkassen richteten sich generell nach der Entscheidung des SG Berlin. Die tatsächliche Umsetzung geschah allerdings nicht von heute auf morgen, wie ein weiterer Bericht des STERN vom 26. Oktober 1970 deutlich macht. Noch im Jahre 1974 war die Versorgung mit Dialyseplätzen je nach Bundesland höchst unterschiedlich, obwohl keine Anhaltspunkte bestanden, dass die Erkrankungshäufigkeit regional unterschiedlich war. Was sich verändert und nicht verändert hatte, zeigt der Bericht aus dem Jahr 1975. Auch Kongresse von Medizinern nahmen sich des Problems an. Über ein neues Dialyse-Zentrum wurde eingehend berichtet; selbst Prominenz war zur Stelle. In der Gegenwart erhalten an die 80.000 Menschen regelmäßig eine Dialyse. Das Problem aus den 1970er Jahren ist gelöst. Einen wesentlichen Anstoß dazu hatte das SG Berlin gegeben. Ohne seine Entscheidung wären mit Sicherheit sehr viele Menschen gestorben, bevor sich der Gesetzgeber zu einer Reform aufgerafft hätte.
Der Einigungsvertrag enthielt für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in der früheren DDR eine Sonderregelung. Wird die Einrichtung, in der sie tätig waren, nicht "überführt", so "ruhten" automatisch ihre Arbeitsverhältnisse für sechs Monate und endeten nach Ablauf dieser Frist. Bei Personen, die im Zeitpunkt des Beitritts der DDR das 50. Lebensjahr vollendet hatten, betrug diese Frist neun Monate. Während dieser Zeit erhielten sie 70 % des Einkommens, das sie in den letzten sechs Monaten im Durchschnitt verdient hatten. Konnten die Betroffenen während dieser Zeit kein neues Arbeitsverhältnis finden, waren sie auf das Arbeitslosengeld angewiesen. Mit Rücksicht auf die häufig beschworene, aber selten real werdende Hoffnung auf ein neues Arbeitsverhältnis sprach man von "Warteschleife".
Die Frage, ob eine Einrichtung übernommen wurde oder nicht, ließ sich faktisch nicht an rechtlichen Maßstäben überprüfen. Eine juristische Möglichkeit bestand nur insoweit, als man die Gesamtregelung angreifen konnte: Sie zerstörte schematisch ohne Rücksicht auf soziale Betroffenheit und früheres Verhalten eine Unzahl beruflicher Existenzen. Dies war ein Problem der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG.
Eine Reihe von Betroffenen erhob Verfassungsbeschwerde gegen diesen Teil des Einigungsvertrages und ließ sich dabei von einer Wirtschaftskanzlei anwaltlich vertreten. Die Gewerkschaften, die nach der Einheit großen Zulauf in den neuen Bundesländern hatten, wurden vom Bundesverfassungsgericht um eine Stellungnahme gebeten. Sie unterstützten in vollem Umfang die Beschwerdeführer; die Formulierung der Stellungnahme und die Vertretung in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe wurde mir übertragen.
Das Karlsruher Verfahren ist in einem Buch dokumentiert, das von Monika Wulf-Mathies, der damaligen Vorsitzenden der ÖTV, herausgegeben wurde. Es trägt den Titel: "Wartescheife" und Einigungsvertrag und erschien 1992 im Bund-Verlag Frankfurt/Main. Auch darin zeigte sich die politische Unterstützung. Das Urteil kam den Beschwerdeführern in gewissem Umfang entgegen, ohne jedoch an der Tabula-rasa-Politik etwas zu ändern.
Eigene Beiträge:
Die sog. Warteschleife auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand: Erste Konsequenzen aus dem Karlsruher Urteil. NJ 1991, S. 233 - 236
"Warteschleife" und Grundgesetz - Karlsruher Vorgaben für das Recht des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern - PersR 1991, 193 – 200
Entscheidung des Bundesverfassungsgserichts
Reaktion in der Öffentlichkeit:
Leiharbeitnehmer verdienen im Schnitt 30 % weniger als vergleichbare Stammbeschäftigte. Dies beruht auf Tarifverträgen, die die DGB-Gewerkschaften abgeschlossen haben. Der deutsche Gesetzgeber hat sich zwar für „Equal Pay“ (gleiche Bezahlung) und „Equal Treatment“ (gleiche Arbeitsbedingungen) ausgesprochen, gestattet aber eine Abweichung durch Tarifvertrag. Von dieser Möglichkeit ist Gebrauch gemacht worden.
Die am 1.4.2017 in Kraft getretene Reform hat scheinbar einige Änderungen gebracht. Hat ein Leiharbeitnehmer im selben Betrieb neun Monate lang gearbeitet, muss er ohne Rücksicht auf die Tarifverträge „equal pay“ bekommen. Das klingt gut, aber es gibt große Schlupflöcher. Niemand hindert den Verleiher daran, die Einsätze auf sieben, acht oder neun Monate zu befristen und den Betroffenen dann in einem anderen Betrieb einzusetzen. Dort darf er wieder bei null anfangen. Wo ist der Fortschritt?
Arbeitet der Leiharbeitnehmer länger als 18 Monate im selben Betrieb (in der Automobilindustrie kommt das durchaus vor), so muss er vom Entleiher als regulärer Arbeitnehmer übernommen werden. Nur hat auch das einen dicken Haken. Durch Tarifvertrag kann die Frist verlängert werden; in der Metallindustrie beträgt sie vier Jahre. Und wenn dies (in anderen Branchen) nicht geschieht, gibt es für die Verleiher einen schönen Ausweg: Kurz vor Erreichen der 18 Monate wird der Leiharbeitnehmer in einem anderen Betrieb eingesetzt und kehrt dann nach drei Monaten und einem Tag wieder an seinen ursprünglichen Arbeitsplatz zurück: Bei mehr als drei Monaten Unterbrechung zählt die frühere Tätigkeit auch hier nicht mehr. So steht es in dem tollen Gesetz. Wieder zurück auf null: Wie bei Mensch-Ärgere-dich-nicht. Nur dass es eben um Menschenschicksale geht.
Nun gibt es eine Leiharbeitsrichtlinie der EU, die etwas besser ist als diese Nahles-„Reform“. Sie lässt zwar auch Tarifverträge zu, die von equal pay und equal treatment abweichen, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Der „Gesamtschutz“ des Leiharbeitnehmers muss trotz tariflicher Abweichung erhalten bleiben. Davon kann nicht die Rede sein: Wenn Tarifverträge gegenüber dem „Normalzustand“ nur Verschlechterungen bringen, bleibt kein „Gesamtschutz“.
Die schlechte Lage der Leiharbeiter und wie man selbst sie noch unterbot, wird an zwei Berichten von Massimo Bognanni (Handelsblatt 1.2.2012 S. 22 und "STERN" vom 25.8.2011) deutlich. Ich hatte beide Male als "rechtliche Auskunftsperson" zur Verfügung gestanden. Bognanni hatte sich wie Günter Wallraff selbst als "Billigarbeiter" verdingt.
Im ZDF griff „Die Anstalt“ die Problematik auf. Wer ein bisschen Zeit hat, sollte sich die Sendung vom 16. Mai 2017 unbedingt in der Mediathek anschauen. Es ist aus meiner Sicht das Beste, was es dazu gibt.
Aufgrund der Sendung haben sich rund 500 Menschen per Mail gemeldet. Die meisten schienen bereit zu sein, vor Gericht zu gehen und notfalls den Europäischen Gerichtshof einzuschalten, der über den konkreten Inhalt von EU-Richtlinien entscheidet.Wie die Prozesse liefen, zeigt mein Bericht bei labournet.de.
Labournet hat außerdem ein Dossier „Leiharbeitskampagne“ erstellt, wo über die weitere Entwicklung berichtet wird.
Die Verleiher fürchteten eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof wie der Teufel das Weihwasser. Als ein Arbeitsrichter in Kaiserslautern einen Vorlagebeschluss verkündet hatte, haben sie sofort ein sog. Anerkenntnis abgegeben, also den Prozess dadurch beendet, dass sie alles bezahlten, was eingeklagt war. Was das für Folgen in anderen Prozessen hat, lässt sich hier nachlesen.
Einen unserer Fälle hat das BAG dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt.
Die Presseerklärung des Bundesarbeitsgerichts befindet sich hier; es folgt ein kurzer Kommentar. Über das Verfahren hat am 16.12.2020 auch das ARD-Mittagsmagazin berichtet (ab Minute 30:45). Der SWR berichtete ebenfalls.
Der EuGH hat am 15.12.2022 entschieden, dass Leiharbeitstarife nur dann zulässig sind, wenn sie eine Kompensation für die Schlechterstellung von Leiharbeitnehmern vorsehen. Denkbares Beispiel: Wer 10 % weniger verdient, muss 14 Tage mehr Urlaub bekommen. Die deutschen Leiharbeitstarife sehen eine solche Kompensation aber nicht vor. Sie können daher den Equal Pay – Grundsatz nicht verdrängen. Das BAG muss nun die Konsequenzen aus der Entscheidung ziehen und der Klage der Leiharbeitnehmerin stattgeben. Voraussichtlich muss aber zunächst noch geklärt werden, ob vergleichbare Stammkräfte mehr verdient haben und welchen Umfang ihre Besserstellung hatte.
Das EuGH-Urteil ist hier abrufbar; dort findet sich auch eine kurze Zusammenfassung. Der Fall hat das Aktenzeichen C-311/21. Der Generalanwalt hatte bereits in gleichem Sinne plädiert; dazu mein Interview mit Radio Dreyeckland. Eine rechtliche Würdigung erschien in Heft 2/2023 der NZA.
Die DGB-Gewerkschaften haben ihre Tarifpolitik nicht geändert, sondern trotz des Urteils im Januar - versehen mit viel Selbstlob - ihre Entgelttarifverträge verlängert, die auf die neue Rechtslage keinerlei Rücksicht nehmen. Korrekturbedarf besteht aber nicht nur bei der Lohnhöhe. Auch beim Urlaub und bei zahlreichen anderen Fragen sind die Leiharbeitstarife schlechter. Dies ist im Einzelnen in einem Beitrag dargestellt der im April-Heft von AiB (=Arbeitsrecht im Betrieb) erschienen ist. In einem Interview mit Labournet wurde darauf hingewiesen, dass Leiharbeiter, die in der Metallindustrie eingesetzt sind, mit Rücksicht auf den Gleichstellungsgrundsatz den für Stammbeschäftigte vorgesehenen Inflationsausgleich in Höhe von 1.500 Euro verlangen können.
Das BAG hat am 31.5.2023 entschieden, dass die Leiharbeitstarife rechtlich in Ordnung sind. Hier findet sich das Urteil und die Presseerklärung. Die Kompensation aller Nachteile soll in der Tatsache liegen, dass das Entgelt in den sog. verleihfreien Zeiten fortbezahlt wird. Diese Position verdient Kritik; erste Beiträge aus LabourNet und "Junger Welt" sind hier wiedergegeben. Voraussichtlich wird es zu neuen Vorlagen an den EuGH kommen.
Das Gesetz über die Fleischwirtschaft verbietet den Einsatz von Werkvertragsarbeitnehmern, von Soloselbständigen und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auch von Leiharbeitern. Dazu und zu weiteren Fragen der prekären Beschäftigung hier das ARD-Fernsehinterview.
Zu Beginn der 1980-er Jahre verkündete die US-Regierung ihre Absicht, als Antwort auf sowjetische Mittelstreckenraketen Raketen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles in der Bundesrepublik zu stationieren. Für die sowjetische Seite war dies mit einer drastischen Verkürzung der Vorwarnzeiten verbunden. Dies brachte die Gefahr mit sich, dass in gesteigerten Spannungssituationen die andere Seite zuerst zuschlagen und die Bundesrepublik in eine atomare Wüste verwandeln würde. Von militärischer Seite wurde dies auch unter dem Aspekt diskutiert, dass ein atomar verseuchtes Deutschland einen Vorstoß der sowjetischen Truppen nach Westeuropa unmöglich machen würde. Dazu kam ein nicht beherrschbares Unfallrisiko. Davon konnte ich auch persönlich betroffen sein; der Flugzeugabsturz über Biberach an der Riß ereignete sich ungefähr 500 m von dem Haus entfernt, in dem ich einen beträchtlichen Teil meiner Kindheit verbracht hatte. Noch deutlicher wurde die Gefahr, als 1982 bei einem amerikanischen Raketentransporter im badischen Ort Waldprechtsweier die Bremsen versagten und dieser in ein Haus raste und etliche Autos unter sich begrub. Im "Stern"Nr. 46 vom 5.11.1981 S. 78 ff. war die erschreckend hohe Zahl von Unfällen dokumentiert, die sich in der Vergangenheit ereignet hatten und die bekannt geworden waren. Dazu kam die Gefahr eines "Atomkriegs aus Versehen". Dies war damals eine abstrakte Befürchtung. Heute wissen wir, dass es am 26. September 1983 nur dem besonnenen Verhalten des sowjetischen Offiziers Stanislaw Petrow zu verdanken war, dass es nicht zu einer solchen Katastrophe kam.
Ein Lager mit amerikanischen Interkontinentalraketen wurde kontinuierlich von einem sowjetischen Satelliten im All beobachtet. Dieser meldete,dass zunächst eine Rakete, dann vier weitere gestartet seien. Da die Flugzeit bis in sowjetisches Gebiet nur etwa eine halbe Stunde betrug, waren in dieser Situation die sowjetischen
Interkontinentalraketen abzuschießen, sobald die oberste Führung grünes Licht gab. Dies hätte sie vermutlich getan, wenn sie die Angriffsmeldung erhalten hätte. Stanislaw Petrow gab seine Beobachtung aber nur mit der Bemerkung "Fehlalarm" weiter. Dies war ein Verstoß gegen die für ihn geltenden Richtlinien. Er meinte, wenn die
Sowjetunion wirklich angegriffen würde, würde die andere Seite nicht nur fünf Raketen abschießen; auch wollte er nicht schuld sein am Untergang ganzer Völker. Später stellte sich heraus, dass es sich um eine Luftspiegelung gehandelt hatte. Als der Vorgang nach 1991 bekannt wurde, gab es einen Film über Petrow und zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2012 den deutschen Medienpreis und 2013 den Dresden-Preis. Ein Bürgerantrag, in Bonn einen Platz nach ihm (und einem anderen Offizier mit ähnlichem Verhalten) zu benennen, wurde mit den Stimmen auch der SPD abgelehnt.
Die Friedensbewegung der achtziger Jahre wandte sich nicht nur gegen die Stationierung der Atomraketen und verlangte ihren Abzug. Vielmehr waren auch zahlreiche chemische Waffen in der Bundesrepublik gelagert. Über den Ort gab es nur Vermutungen; auch wusste man nicht, ob das Giftgas sicher gelagert war. Da es vermutlich schon Ende der 40-er oder Anfang der 50-er Jahre nach Deutschland verbracht worden war, konnte man sich unschwer durchgerostete Kanister und Ähnliches vorstellen.
Da die Vermutung bestand, das Giftgas sei in Fischbach (Rheinland-Pfalz) gelagert, war der Widerstand dort am größten. Neben einer Reihe von Bundestagsabgeordneten engagierte sich insbesondere der dortige DGB-Vorsitzende Julius Lehlbach gegen das "Teufelszeug".
Die sich entwickelnde Friedensbewegung bestand aus Menschen mit sehr unterschiedlichem politischem und sozialem Hintergrund. Viele "68-er" waren dort aktiv; auch gab es zahlreiche andere Linke innerhalb und außerhalb der traditionellen Parteien, überzeugte Christen und Pazifisten. Der Konsens wird an beigefügter "Karikatur" deutlich. Die Friedensbewegung entwickelte eine Reihe von Handlungsformen, die zum Teil auch juristische Probleme mit sich brachten.
- Die häufigste und sichtbarste Handlungsform war die Demonstration. In Erinnerung geblieben sind die Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten 1981 (mit etwa 300.000 Teilnehmern) und 1983 (wo die Polizei von 200.000 und die Veranstalter von 500.000 Teilnehmern sprachen). Zeitgleich gab es in viele Großstädten Kundgebungen; bundesweit waren ca. 1,3 Mio. Menschen auf der Straße. Zwischen Ulm und Stuttgart wurde eine Menschenkette gebildet, an der sich 200.000 Personen beteiligten.
- Bestimmte Gemeinden und Städte erklärten sich zur "atomwaffenfreien Zone". Dies war zum Teil als symbolischer Akt gemeint; zum Teil wäre ein Raketentransport auf Schwierigkeiten gestoßen (quergestellte Lkws), doch kam es nicht zu einer solchen Konfrontation.
- Vor militärischen Anlagen, etwa in Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd, gab es Sitzblockaden. Die Polizei trug die Beteiligten nach einiger Zeit weg; sie wurden zunächst wegen Nötigung nach § 240 StGB verurteilt. Einige Jahre später erklärte das Bundesverfassungsgericht diese Verurteilungen für verfassungswidrig, weil der Gewaltbegriff zu weit ausgelegt worden sei. Viele Strafverfahren wurden rückgängig gemacht.
- Wenn es um die Fortexistenz des Volkes geht, muss dieses selbst entscheiden. Deshalb wurde - ähnlich wie im Kampf gegen die Wiederbewaffnung in den 1950-er Jahren - eine Volksabstimmung verlangt, die aller Voraussicht nach die Stationierung von Massenvernichtungswaffen abgelehnt hätte. In einer repräsentativen Demokratie gibt es aber nur ausnahmsweise verbindliche Volksabstimmungen; deshalb war oft lediglich von einer Meinungsbekundung, einer sog. konsultativen Volksabstimmung die Rede, die aber eine hohe moralische Wirkung hätte entfalten können. Gerade deshalb wurde auch sie nicht zugelassen.
- Die Lagerung von Atomraketen und C-Waffen wurde als Verfassungsverstoß gesehen: Obwohl es sich um eine zentrale Frage handelte, hatte sich der Gesetzgeber nie dazu geäußert. Auch war die nationalen Souveränität verletzt; die Existenz des deutschen Volkes wurde letztlich von Entscheidungen des US-Präsidenten abhängig gemacht. Zahlreiche Bürger erhoben deshalb Verfassungsbeschwerde.
- Die militärische wie die juristische Dimension der Massenvernichtungswaffen war Gegenstand zahlreicher kleinerer und größerer Veranstaltungen, bei denen intensiv und fast immer in solidarischer Form Argumente ausgetauscht wurden. Auch Landesparlamente diskutierten, wobei treibende Kraft meist die gerade erst ins Parlament gekommenen Grünen waren. Ihr Engagement war groß und sehr geradlinig. Hier ist als Beispiel eine Rede der Abgeordneten Gertrud Schilling im hessischen Landtag wiedergegeben, die zu Beginn ihrer Rede einigen "Honoratioren" ein Exemplar meines Büchleins "Stationierung und Grundgesetz" übergeben hat. Die Art und Weise, wie die Rednerin durch CDU-Abgeordnete dauernd unterbrochen wurde, ist bei unerwünschten Meinungen auch heute noch üblich. Es geht manchen Leuten nicht um "Erkenntnis", sondern nur darum, den andern zu stören und im Extremfall niederzubrüllen. Im Alltag gibt es andere Mechanismen, die in einem kleinen Beitrag über "die Russen" geschildert werden. Rationaler Diskurs im Sinne von Habermas? Davon ist die Realität meilenweit entfernt. Außerdem gab es eine wissenschaftliche Diskussion, die sehr stark von Friedensforschern und Juristen geprägt war.
Im Folgenden werden eigene Beiträge dokumentiert. Dabei handelte es sich um:
Ein Buch und zahlreiche Aufsätze
Buch: Stationierung und Grundgesetz, Zu diesem Buch Zu diesem Buch s. die folgenden Reaktionen.
Volksbefragung zur Stationierung? Blätter für deutsche und internationale Politik 1982, 1415-1417
Volksentscheid jetzt, Zu rechtlichen Fragen, in: Volksentscheid jetzt, Nr. 2, März/April 84, S. 3
Souveränes oder besetztes Land? Grundgesetz und westliches Bündnissystem, antimilitarismus information, Dezember 1982, S. III - 169 – 173, auch abgedruckt in: Stolz (Hrsg.), Ein anderes Deutschland. Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage, Berlin 1985, S. 118 - 122
Der Staat muß sich schützend vor das Leben stellen, Dokumentation der zusammen mit Michael Bothe erarbeiteten Verfassungsbeschwerde gegen die Lagerung von US-Giftgas in Rheinland-Pfalz, Frankfurter Rundschau vom 21. Oktober 1982, S. 14
Stationierungsverbot nach Kriegsvölkerrecht? Einspruch, Juni 1982, S. 9 - 11
"Atomwaffenfreie Zonen" in der Bundesrepublik? ZRP 1983, 113 – 115, abgedruckt auch in: Vereinigung der Berliner Strafverteidiger e. V. (Hrsg.), Demonstration, Ungehorsam, Widerstand gegen Raketenstationierung. Anwaltsforum am 1. und 2. Oktober 1983 in Kassel, Berlin 1983, S. 142 - 146, in leicht veränderter Form auch in: Gemeinden für den Frieden. Tagung am 15. Oktober 1983 in Kassel, herausgegeben von der Stadt Kassel, S. 34 - 39 (der nachmalige hessische Ministerpräsident und Bundesfinanzminister im Kabinett Schröder Hans Eichel, damals OB in Kassel, war die treibende Kraft und erwies sich als freundlicher und unprätentiöser Mensch. Wäre er doch in Kassel geblieben...)
Juristen in der Friedensbewegung, GMH 1983, 599 – 606
Der Gang nach Karlsruhe - ein Beitrag zur Friedensbewegung? in: DGB Landesbezirk Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Giftgas? Nein, Mainz 1983, S. 9 - 14
Chemische Waffen, Nuklearraketen und Verfassungsrecht, in: Betz/Kaiser (Hrsg.), Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden. Berlin 1983, S. 174 - 179
"Das ist eine rein deutsche Entscheidung". Appell der Initiative "Richter und Staatsanwälte für den Frieden" an Bundestag und Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen nicht zu erteilen, Frankfurter Rundschau v. 17. November 1983, Dokumentationsseite
Nachrüstung und Grundgesetz, in: Erstes Forum Richter und Staatsanwälte für den Frieden, hrsgg. von Hartmut Bäumer, München 1983, S. 6 – 21
Friedensarbeit im Betrieb - unerlaubte parteipolitische Betätigung? AiB 1983, 27 - 29
Ziviler Ungehorsam im Betrieb? In: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1983, S. 126 – 134
Friedensbewegung, Widerstand und Recht, SPW (Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft) 1983, 323 – 328
Perspektiven des weiteren Kampfes gegen Giftgas und Atomraketen, in: Deutsch-französisches Komitee gegen Giftgas und Atomraketen (Hrsg.), Vorderweidenthal 1983, S. 62 – 67
Diskussionsbeitrag, in: Paech-Stuby (Hrsg.), Juristen gegen Kriegsgefahr in Europa. Protokoll einer internationalen Konferenz, Köln 1983, S. 83 – 85
Widerstand in der Demokratie. Verfassungsrechtliche Aspekte, in: Häussermann-Krauter (Hrsg.), Gustav-Heinemann-Initiative: Recht zum Widerstand, Stuttgart 1983, S. 28 – 34
Rechtsprobleme des Widerstands gegen die Stationierung, in: Sicherheit und Frieden, Vierteljahresschrift, 1983, 14 – 20
Aggressiv und ignorant. Zu Robert Scheers Interviews mit führenden amerikanischen Politikern, DVZ vom 2. Juni 1983, S. 10
Rechtswidrige Stationierung, Blätter für deutsche und internationale Politik, 1983, 1180 – 1182
Raketengefahren erfordern gewerkschaftliches Engagement, Nachrichten zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Heft 7/1983, S. 4
raketen contra grundgesetz, druck + papier 19/1983, S. 18 – 19
Mit Paragraphen gegen Raketen? In: einspruch, Zeitung für Rechtsanwälte, Dezember 1983, S. 1 – 2
Verfassungsbeschwerde gegen die Lagerung von Giftgas in Rheinland-Pfalz (zusammen mit Michael Bothe), in: Lehlbach (Hrsg.), Gewerkschaften gegen Giftgas. Verfassungsbeschwerde gegen die Lagerung amerikanischer C-Waffen in der Bundesrepublik, Köln 1984, S. 49 ff.
Nuklearraketen und Völkerrecht, in: Däubler-Deiseroth-Schweisfurth, Nuklearraketen gegen Völkerrecht und Selbstbestimmung, Starnberg 1984, S. 19 – 38
Gespräch über Widerstand - heute, in: Liedtke, Widerstand ist Bürgerpflicht. Macht und Ohnmacht des Staatsbürgers, München 1984, S. 187 – 195
Widerstand heute, Vorgänge Heft 2/1985, S. 18 - 22
Widerstandsrecht in der Demokratie. Pro und contra. Eine Einführung, in: Meyer-Miller-Strasser (Hrsg.), Widerstandsrecht in der Demokratie, Köln 1984, S. 11 – 15
Volksbefragung und Grundgesetz, in: Leinen (Hrsg.), Volksbefragung. Keine Raketen - mehr Demokratie, Berlin 1984, S. 44 – 53
Recht durch Rechtsbruch? Eine Frage - zwei Antworten. In: Radius, eine Vierteljahresschrift, Heft 1/1984, S. 16 – 19
The West German Lawyers´ Lawsuit against the Missile Deployment (= Die Klage westdeutscher Juristen gegen die Stationierung von Raketen), in: Swedish Physicians Against Nuclear Arms, Nuclear War by Mistake - Inevitable or Preventable? Report from an International Conference in Stockholm, Sweden, 15-16 February 1985, S. 90 - 93
(Wie berechtigt die Sorgen vor einem "Nuclear War by Mistake" waren, erfuhren wir erst gut zehn Jahre später. Durch die besonnene Reaktion von Stanislaw Petrow, dem Verantwortlichen auf sowjetischer Seite, wurde im September 1983 ein Atomkrieg vermieden, als die Systeme falsch funktionierten und einen US-Angriff anzeigten - eine beeindruckende Schilderung der Vorgänge ist unter hier abrufbar).
Die Regierung hat die Raketenstationierung zu verantworten, in: Deutsche Volkszeitung/Die Tat, Nr.1/1985 S. 5
Ächtung der Giftwaffen, in: Dosch und Herrlich (Hrsg.), Abrüstung biologischer und chemischer Kampfstoffe, Frankfurt/Main (Fischer) 1985, S. 90-97
Friedensbewegung und Legalität, in: Butterwegge u. a. (Hrsg.), Kriminalisierung der Friedensbewegung, Köln 1985, S. 57 – 62
Abrüstung biologischer und chemischer Kampfstoffe, in: Bäcker u.a. (Hrsg.), Friedensarbeit im Betrieb. Handbuch für gewerkschaftliche Friedenspolitik, Hamburg 1985, S. 116 – 123
Stationierung ausländischer Truppen in der Bundesrepublik, in: Stadtverordnetenversammlung Wiesbaden (Hrsg.), Antikriegstag 1985, S. 1 – 7
Nürnberger Prinzipien und Massenvernichtungswaffen, in: Hirsch-Paech-Stuby (Hrsg.), Politik als Verbrechen, "40 Jahre Nürnberger Prozesse", Hamburg 1986, S.116 – 119
Raketenabzug: Nur eine Frage der Politik, Vorwärts Nr. 32 vom 9. August 1986, S. 16 – 17
Rechtliche Aspekte gemeinsamer Sicherheit, in: Bahr-Lutz (Hrsg.), Gemeinsame Sicherheit, Bd II, Baden-Baden 1987, S. 33 - 46
C-Waffen-Lagerung und Grundgesetz, DuR 1988, 219 – 225
Wir waschen unsere Hände in Unschuld ... Zur C-Waffen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Brusis-Kretschmer (Hrsg.), Weg mit dem Teufelsdreck! Für ein weltweites C-Waffenverbot und ein chemiewaffenfreies Europa, Köln 1989, S. 141 - 155, teilweise abgedruckt auch in: Beisiegel und Rilling (Hrsg.), Weiter abrüsten! Friedliche Wege in die Zukunft, Protokolle zum Tübinger Kongreß der Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für den Frieden, Marburg 1989, S. 154 - 163
Presseberichte und Interviews
Es lag nahe, sich zunächst gegen die Lagerung chemischer Kampfstoffe zu wenden. Hier hatte das Argument keine Gültigkeit, man wolle nur "nachrüsten", den sowjetischen SS 20 - Raketen etwas Gleichwertiges entgegensetzen. Die C-Waffen waren seit Jahrzehnten hier gelagert, ein Relikt aus der Besatzungszeit. Und ein feindlicher Angriff mit Raketen hätte zur Folge gehabt, dass in der Nähe der Lager niemand überlebt hätte. Wo lag der militärstrategische Sinn dieser Waffen? In Rheinland-Pfalz, aber auch an anderen vermuteten Stationierungsorten gab es viel Widerstand. Außerdem war die Front eine breite, weil Julius Lehlbach als DGB-Vorsitzender Rheinland-Pfalz ein hohes Ansehen innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften genoss und mit großer Überzeugungskraft seit vielen Jahren gegen dieses "Teufelszeug" gekämpft hatte. Die politischen wie die juristischen Aktionen gegen die C-Waffen kamen so "aus der Mitte der Gesellschaft". Die Verfassungsbeschwerde wurde von Prof. Michael Bothe aus Frankfurt/Main und von mir formuliert.Im Folgenden wird die "Begleitmusik" durch die Presse wiedergegeben.
"Nicht bereit zu sterben, damit Amerika überlebt". DGB Rheinland-Pfalz fordert: Kein Giftgas in der Bundesrepublik, "Vorwärts" v. 26. August 1982
Kanzler-Antwort an den DGB-Vorsitzenden v. 24. September 1982
Der DGB-Landesvorsitzende Lehlbach will sie per Gericht verbieten lassen: "Giftgas ist eine Angriffswaffe", Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 13. Juni 1982
DGB will gegen Lagerung von US-Giftgasen in der Pfalz klagen. Verfassungsbeschwerde angekündigt, Frankfurter Rundschau v. 5. Juli 1982
Wegen Giftgas nach Karlsruhe, Frankfurter Rundschau v. 27. August 1982
DGB zieht gegen US-Giftgas in der Pfalz vors höchste Gericht, Neue Rhein Zeitung v. 25. August 1982
Giftgas-Klage des DGB entzweit die Genossen, Die Welt v. 26. August 1982
(Ein Versuch, die Aktion in schlechtem Licht dastehen zu lassen)
Neben der Verfassungsbeschwerde gegen die Stationierung der C-Waffen als solche gab es auch eine Klage von Abgeordneten, die wissen wollten, wo denn die C-Waffen gelagert seien. Die Initiative ging auf den Abgeordneten Freimut Duve zurück, im Hauptberuf Verantwortlicher für die damals sehr weit verbreitete Taschenbuchreihe roroaktuell. Zur Klage s. den kurzen Bericht: Wegen C-Waffen Klage erhoben, Weser Kurier vom 19./20. Februar 1983, S. 1
Was sagen Völkerrecht und Grundgesetz zur Stationierung neuer Massenvernichtungswaffen in der BRD? Veranstalter: Odenwälder Friedensforum, 7. November 1982
Veranstaltung des DGB Mannheim über C-Waffen am 27.1.1983
Die Betroffenheit war besonders groß, da die Vermutung bestand, im Käfertaler Wald bei Mannheim sei Giftgas gelagert
Ängste und Gerüchte (Klage gegen C-Waffen), DER SPIEGEL vom 14. März 1983 S. 59 - 61
Anti-Pancket für Frieden und Abrüstung in Goslar, 21. März 1983
Das "Pancket" ist eine seit dem Mittelalter bestehende Festivität mit Honoratioren - deshalb die alte Schreibweise statt "Bankett"; im konkreten Fall war der US-Botschafter eingeladen. Es bot sich an, auch gegen "die da oben" zu demonstrieren.
Am 4.6. 1983 demonstrierten 450 Richter und Staatsanwälte in Bonn gegen die Raketenstationierung. Nach dem Demonstrationszug durch die Stadt versammelte man sich in der Beethovenhalle, wo man nach eingehender Diskussion eine Resolution beschloss. Der Text meines Referates ist derzeit nicht mehr auffindbar. In der abendlichen Tagesschau war die Aktion eine Spitzenmeldung, die Öffentlichkeit war einigermaßen aufgeschreckt.
Zu der Demonstration s. den Bericht in der Deutschen Volkszeitung (DVZ; heute: Freitag) sowie den Text der Resolution. Dazu gab es auch Alternativen, von denen eine hier wiedergegeben ist.
Nun gehen auch Richter und Staatsanwälte auf die Straße... die tat vom 10. Juni 1983 S. 3</p
Nachrüstung: "Ohne historische Parallele", DER SPIEGEL vom 13. Juni 1983 S. 28 - 32
Auch die Richter und Staatsanwälte in der ÖTV wurden aktiv: Veranstaltung am 21. Juni 1983 in Münster
"ICH TU WAS!" Konkret vom 7. Juli 1983 S.12 - 25, Wer wissen will, was aus den abgebildeten Promis geworden ist, kann Google befragen. Man sieht hier Otto Schily, Joschka Fischer und Henning Scherf.
Raketenstationierung und Grundgesetz, Veranstalter: DGB-Kreis Rotenburg-Verden, 6. Juni 1983
Stoppt Anfechtungsklage die Raketenpläne? Weser-Kurier vom 6. Juni 1983 S. 2
Raketenstationierung und Grundgesetz, Veranstaltung in Pforzheim am 8. Juli 1983
Am selben Tag: Freispruch für Blockierer und Dämpfer für den Justizminister
(Frankfurter Rundschau v. 4.8.1983, S. 1 und S. 3)
Text von Verfassungsbeschwerden
Gemeinsam mit Michael Bothe erarbeitete Verfassungsbeschwerde gegen die Lagerung chemischer Waffen in der Bundesrepublik, wiedergegeben in "Frankfurter Rundschau" vom 21. Oktober 1982
Verfassungsbeschwerde wegen der Stationierung von Pershing II - Aromraketen vom 12.12.1983
Verfassungsbeschwerde wegen der Stationierung von Pershing II - Atomraketen vom 10.11.1984
Auch nach 1990 gab´s noch was zu sagen: Bundeswehreinsatz "out of area"? Reutlinger Nachrichten/Ermstalbote v. 12.3.1991 und Reutlinger Generalanzeiger v. 13.3.1991
Der Ukrainekrieg hat die Friedensfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die Fronten verlaufen aber heute anders als früher. Überzeugte Pazifisten haben einen schwereren Stand als in den 1980-er Jahren; die Toleranz gegenüber Andersdenkenden hat abgenommen. Unterstützer der russischen Position sind völlig an den Rand gedrängt. Allerdings gibt es eine wachsende Zahl von Menschen, die insbesonderre vom Westen mehr Bemühungen um diplomatische Lösungen verlangen und die die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch sehen. Auch haben sich die gegen Russland verhängten Sanktionen als wenig wirksam erwiesen und hatten überdies den Bumerang-Effekt, dass die Energiekosten in Deutschland enorm gestiegen sind. Derzeit ist offen, ob die USA weiter finanzielle und (verdeckte) militärische Unterstützung leisten oder ob sich diejenigen durchsetzen, die die Staatsausgaben reduzieren und deshalb die Ukraine-Hilfe stoppen wollen. Wäre letzterees der Fall, würde es vermutlich zu einem umgehenden Waffenstillstand und einem "Einfrieren" des derzeitigen Grenzverlaufs kommen - auf mittlere Sicht wäre dies eine Lösung wie in Korea.
Eigene Aktivitäten finden sich unter Aktuelles und hier.
Der Ukrainekrieg hat der Friedensfrage erneute Aktualität verliehen. Das meiste findet sich unter "Aktuelles"; hier ein überarbeiteter Beitrag über "Ukraine-Krieg und Gewerkschaften" und ein kleiner Kommentar zur aktuellen Meinungsfreiheit "Wie in der guten alten Zeit".
Seit 1972 werden Bewerber für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst abgelehnt, weil sie der DKP oder einer anderen linken Organisation angehören. Dabei genügt es, wenn sie sich in völlig legalem Rahmen für die (angeblich "verfassungsfeindliche") Partei oder Organisation betätigen, beispielsweise zum Gemeinderat oder zum Landtag kandidieren. Für Beamte ist ein solches Verhalten sogar ein Entlassungsgrund. Diese Praxis ist zwar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Dorothea Vogt für rechtswidrig erklärt worden, doch gibt es immer wieder Versuche, zur Praxis in den 1970-er und 1980-er Jahren zurückzukehren. Über die Entwicklung und die heutige Situation informiert umfassend die Website: www.berufsverbote.de (betreut von Lothar Letsche).
Gegenüber Rechtsradikalen werden andere Maßstäbe angelegt. Auch gegenüber ihnen gibt es Nichteinstellungen, Kündigungen und Entfernungen aus dem Dienst, doch stützen sich diese nicht in erster Linie auf die Gesinnung, sondern primär auf konkretes illegales Verhalten wie die Benutzung von NS-Symbolen oder die Leugnung des Holocaust.
Aufsätze
Stellungnahme zu den Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst - Blätter für deutsche und internationale Politik 1972, 130 – 132
Fragwürdige Entscheidung zum Grundrecht der Meinungsfreiheit, Die Quelle 1975, S. 219-221
Radikale im öffentlichen Dienst?, RiA 1977, 181 – 186
Hexenjagd, in: Jung (Hrsg.), Für eine bessere Republik: Ein Lesebuch, Köln 1987, S. 84 - 86
Der Fall Hans Meister
Entlassung des DKP-Mitgliedes Meister beantragt, FAZ vom 10. Mai 1084 S. 4
Längster Berufsverbotsfall jetzt in letzter Instanz, Westfälische Rundschau 9. Mai 1984
Wer sich bückt, wird nichts zu befürchten haben. Zum Urteil gegen Hans Meister, DVZ v. 18. Mai 1984, S. 1
Recht "kurzen Prozeß" gemacht. Das Verfahren gegen Hans Meister - Rechtsstaatlichkeit dritter Klasse, Vorwärts v. 5. Juli 1984, S. 14 – 15
Bundesverwaltungsgericht feuert Hans Meister: Kurzen Prozeß gemacht, Deutsche Post, Nr. 16/1984, S. 14 – 15
Rechtsstaatlichkeit dritter Klasse. Das Verfahren gegen Hans Meister, Blätter für deutsche und internationale Politik 1984, 654 – 657
DKP-Mitglied darf nicht Postbeamter sein, Weser-Kurier vom 11. Mai 1984
Meister verliert Beamtenstatus, Stuttgarter Zeitung vom 11. Mai 1984
Der Fall Wolfgang Repp
Auch Wolfgang Repp war beamteter Briefträger, gehörte der DKP an und sollte deshalb aus dem Dienst entfernt werden. Wir verzögerten nach Kräften das Verfahren, bis es dann durch die Ereignisse 1989/1990 an Brisanz verlor. Es kam nicht mehr zu einem Urteil.
Die internationale Dimension
Wieder Hoffnung für Helga Lange durch ILO-Bericht, Nord-West-Zeitung vom 26. Juni 1987
Politische Diskriminierung in der Bundesrepublik - ein Fall für die Internationale Arbeitsorganisation? PersR 1984, 82 - 84
Politische Treuepflicht des Beamten im internationalen Recht, RiA 1985, 121 - 124
Radikale im öffentlichen Dienst als Thema des internationalen Rechts, in: Vereinte Nationen 1986 S.99 – 102
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Das Bild ganz oben auf dieser Seite zeigt den Schwurgerichtssaal des Landgerichts Bremen. Es wurde von Godewind unter der Creative-Commons -Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 internationalveröffentlicht und von Wikimedia Commons zur Verfügung gestellt.